Die Wilhelminenberger

"Das erste, was ich für die Verhaltensforschung in Österreich tun durfte, war das Geradeklopfen verrosteter Nägel...... Aber da war ein Mann in Hemdsärmeln, der offenbar wußte, was er wollte."
(Eberhard Trumler, ein früher Mitarbeiter am Wilhelminenberg, in: Rendezvous mit Tier und Mensch, 1997, p.13)

Der Wilhelminenberg, eigentlich eine geographische Bezeichnung für einen Teil Wien-Ottakrings, wird durch Otto Koenig zum Synonym für eine Forschungsrichtung, Idee und Programm.

"Die Wilhelminenberger" betreiben nicht nur gezielte Vergleichende Verhaltensforschung, sondern bilden eine eingeschworene Gruppe, die sich den Zielen ihres Stationsgründers verschrieben hat.
Viele der ersten Mitarbeiter rekrutieren sich aus der Pfadfinderbewegung ("Gruppenführer").

Otto Koenig am Wilhelminenberg, 1965
Foto: Privatarchiv Nachlass Otto Koenig

Alle Mitarbeiter tragen olivgrüne Institutshemden (das "Wilhelminenberg Hemd", dessen Verwandtschaft zum Pfadfinderhemd offenkundig ist) mit vielen kleinen Taschen für Notizbuch, Schreibwerkzeug und sonstige Utensilien, darüber zu bestimmten Anlässen einen Walkjanker. Die Kleidungsstücke sind mit den Emblemen des Instituts, Silberreiher und Lebensbaum (als Symbol der Stammesgeschichte) sowie Institutsnamen bestickt.

 
Otto und Lilli Koenig und Mitarbeiter
in Institutsuniform, 1971
Foto: Privatarchiv Nachlass Otto Koenig
  Emblem Silberreiher
Foto: Eberhard 2005
     
Emblem Lebensbaum
Foto: Eberhard 2005

Besonders bei öffentlichen Auftritten (Medienpräsenz) legt Otto Koenig größten Wert auf eine einheitliche Kleidung seiner Mitarbeiter.

"Gemeinsame Kleidung ist immer Ausdruck einer Zusammengehörigkeit. Gruppen von Menschen, die in sehr enger Beziehung miteinander stehen, haben sich immer auch bestimmte äußere Zeichen für ihre soziale Bindung gewählt."
(Otto Koenig, Naturschutz an der Wende, 1990, p.226)


Biologische Station Wilhelminenberg

Gründung

Im Sommer 1945, nach seiner Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft, verwirklicht Otto Koenig seinen lang gehegten Traum eine Forschungsstation zu gründen, an der Verhaltensforschung im Sinne von Konrad Lorenz (Konrad Lorenz und Otto Koenig) und Oskar Heinroth betrieben wird. Er und seine Frau Lilli säubern ein leerstehendes Flak-Barackenlager gegenüber dem Schloss Wilhelminenberg am Westrand Wiens von allen Kriegsresten und bauen es mit Zustimmung der Gemeinde Wien und des Amtes für Heereswesen zur Biologischen Station Wilhelminenberg um.

Der Ausbau der Station geht unter schwierigen Bedingungen voran: nur mit wenigen Helfern wird in den ersten Nachkriegsjahren die gesamte Einrichtung mit unzureichendem Werkzeug und wenig Material selbst hergestellt. Die private Finanzierung erfolgt durch Buchveröffentlichungen, Zeitungsartikel und Vortragstätigkeit. 1948 muß Otto Koenig seine Filmgeräte verkaufen, um die Station in Betrieb halten zu können.
  Barackendorf am Wilhelminenberg,
Zeichnung Lilli Koenig 1946
Foto: Privatarchiv Nachlass Otto Koenig

Trotz Förderungen der Gemeinde Wien und des damaligen Bundesministeriums für Unterricht ist das Geld immer sehr knapp. Deshalb kommt es im Jahre 1957 zur Gründung der Forschungsgemeinschaft Wilhelminenberg und der Gesellschaft der Freunde der Biologischen Station Wilhelminenberg.

1967 geht aus der Biologischen Station Wilhelminenberg das Institut für Vergleichende Verhaltensforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften unter der Leitung von Prof. Otto Koenig hervor.


Arbeitsprogramm

 

Ziel der Verhaltensforschung (Ethologie) ist es, zunächst durch genaue Beobachtung Verhaltenskataloge (Aktionssystem) für möglichst viele Tierarten zu erarbeiten, um danach durch Vergleich von angeborenen arttypischen Verhaltensweisen Verwandtschaften zwischen den einzelnen Tierarten untersuchen zu können (Vergleichende Verhaltensforschung).

"Gründliches Freilandstudium, sorgfältig angepaßte Haltungstechnik und geduldig stilles Beobachten" bezeichnet Otto Koenig als die wesentlichen Voraussetzungen der ethologischen Arbeitsweise (Otto Koenig, in: Urmotiv Auge, 1975,p.29).
Die Biologische Station Wilhelminenberg mit Teich, Wiese und Wald, wo Silberreiher und Störche frei in einem zum Weiden- und Schilfdschungel renaturierten Betonbecken leben, wo ein zahmer Dachs, Nutrias, Bienenfresser und Siebenschläfer, Seiden- und Kuhreiher in Käfigen und Volieren hausen, bietet die idealen Studienmöglichkeiten. Otto Koenig und seinen Mitarbeitern ist jedes Tier recht, da zu Beginn die Zahl der unerforschten Tierarten noch sehr groß und Artenvielfalt für Vergleichszwecke erwünscht ist. Ein Paar Waldmäuse aus dem Garten der Eltern in Klosterneuburg wird zum ersten Forschungsobjekt.

Lilli Koenig bei der Arbeit, Wilhelminenberg 1948
Foto: Privatarchiv Nachlass Otto Koenig

Jeder Mitarbeiter ist für "seine" Tiere voll verantwortlich: er hat diese nicht nur passend unterzubringen, sondern auch zu füttern, ihre Unterkünfte zu reinigen und natürlich fortlaufend über ihr Verhalten Protokoll zu führen.

Die meisten Wilhelminenberger sind freiwillige und freie Mitarbeiter ohne Anstellungsverhältnis, die bezahlt werden, wenn gerade Geld vorhanden ist. Aber alle betrachten es als Privileg, in einer Baracke mit Wohn-Arbeitsraum, winziger Wasch-Kochnische und einem kleinen Tierraum wohnen und an den Erkenntnissen eines neuen Wissenszweiges teilhaben zu dürfen.
Die ehemalige Baracke von Otto Koenig heute.
KLIVV August 2005
Foto: Eberhard
 

Der ehemalige Schlafraum Otto Koenigs wird heute als Sprachlabor genutzt. KLIVV August 2005
Foto: Eberhard

Einen zentralen Punkt im Arbeitsprogramm bilden regelmäßig abgehaltene Mitarbeiterbesprechungen, bei denen Fragestellungen der Biologie und Verhaltensforschung oder anstehende Alltagsprobleme lebhaft, oft bis in die Nacht hinein, diskutiert werden.
Wenig veränderter Besprechungsraum heute. KLIVV August 2005
Foto: Eberhard
 

Durch diese Holztür (mit Ofenblech) pflegte Otto Koenig morgens Punkt 8 Uhr als Letzter den Besprechungsraum zu betreten, in dem sich bereits alle Mitarbeiter der Station versammelt hatten. Originaltür, KLIVV August 2005
  Foto: Eberhard

Jeder Mitarbeiter ist in alle weiteren Aktivitäten der Biologischen Station Wilhelminenberg eingebunden, wie die Betreuung der Wetterstation, öffentliche Samstags- und Sonntagsführungen durch die Station, Publikationen, Vorträge an Volkshochschulen, aber vor allem an der Gestaltung der seit 1956 bis 1992 regelmäßig ausgestrahlten Fernsehsendung Rendezvous mit Tier und Mensch, die wesentlich zum Bekanntheitsgrad der Wilhelminenberger beiträgt. (Medienpräsenz).
Gästebucheintragungen am Wilhelminenberg
Foto: Privatarchiv Nachlass Otto Koenig

Von Anfang an wird der Mensch in die Forschungen der Biologischen Station Wilhelminenberg mit eingeschlossen, da auch bei ihm viel mehr angeborene Verhaltensweisen wirksam sind, als wir zunächst annehmen. (Von der Ethologie zur Kulturethologie) (Der Mensch als Zerstörer und Heiler: Neue Wege im Naturschutz)


 

Forschungsgemeinschaft Wilhelminenberg und
Gesellschaft der Freunde der Biologischen Station Wilhelminenberg
(heute Otto Koenig Gesellschaft)

Um die rechtliche und finanzielle Grundlage der Biologischen Station Wilhelminenberg abzusichern, gründen Otto Koenig und seine Mitarbeiter im Jahre 1957 die Forschungsgemeinschaft Wilhelminenberg, die als privater Trägerverein bis heute existiert, sowie die Gesellschaft der Freunde der Biologischen Station Wilhelminenberg (1985 in Gesellschaft der Freunde der Forschungsgemeinschaft Wilhelminenberg und nach Otto Koenigs Tod 1993 in Otto Koenig Gesellschaft umbenannt) als Förderverein, der ebenfalls unter neuem Namen auch heute noch aktiv ist.


 

Institut für Vergleichende Verhaltensforschung der
Österreichischen Akademie der Wissenschaften

1958 kommt die Biologische Station Wilhelminenberg unter das Protektorat der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und wird dieser 1967 angegliedert. Der neue Name lautet nun Institut für Vergleichende Verhaltensforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Unter der Leitung von Prof. Otto Koenig wird das frühere Arbeitsprogramm weitergeführt.

Nach seiner Pensionierung übergibt Otto Koenig am 31.Dezember 1984 die Institutsschlüssel, um die Forschungsstation nie mehr wieder zu betreten. Arbeitsstil und Geist der Wilhelminenberger Tradition bringt er nun im neu gegründeten Institut für angewandte Öko-Ethologie ein.

Das Institut für Vergleichende Verhaltensforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften wird 1989 zu Ehren von Nobelpreisträger Konrad Lorenz in Konrad Lorenz Institut für Vergleichende Verhaltensforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (KLIVV) umbenannt.

Das ehemalige Barackendorf heute. "Dorfstraße" KLIVV, August 2005
Foto: Eberhard

Neue Zubauten sind dem alten "Stil" nachempfunden. KLIVV, August 2005
Foto: Eberhard

Eine Wandtafel erinnert heute an die Gründung, KLIVV, August 2005
Foto: Eberhard

Wegbegleiter

Konrad Lorenz und Otto Koenig

Konrad Lorenz, 1903 - 1989, österr. Nobelpreisträger, gilt gemeinsam mit seinem Lehrer und Freund Oskar Heinroth als Begründer der Verhaltensforschung (Ethologie).
  Otto Koenig und Konrad Lorenz, 1979
Foto: Privatarchiv Nachlass Otto Koenig

Schon während der ersten Forschungen am Neusiedlersee studiert Otto Koenig begeistert die Schriften von Konrad Lorenz über das neue Wissensgebiet.
Die erste persönliche Begegnung datiert mit 1936 anläßlich eines von Konrad Lorenz abgehaltenen Kurses an der Urania zum Thema "Der Weg zum richtigen Tierbuch". Während der gemeinsamen Heimfahrt (Lorenz nach Altenberg, Koenig nach Klosterneuburg) mangelt es nicht an Gesprächsstoff. Wenig später kommt Lorenz überraschend an den Neusiedlersee auf Besuch.

Die inspirierende Begegnung festigt in Otto Koenig bereits während der Kriegsjahre den Entschluß, eine Forschungsstation aufzubauen, an welcher Verhaltensforschung im Sinne von Konrad Lorenz betrieben wird. 1945 erfolgt die Gründung der Biologischen Station Wilhelminenberg durch Otto und Lilli Koenig.
Im Frühjahr 1948 hält der aus russischer Kriegsgefangenschaft heimgekehrte Konrad Lorenz für eine kleine Gruppe begeisterter Wilhelminenberger eine Vorlesung im Freien.

 
Brief von Konrad Lorenz an die "Wilhelminenberger" aus 1970
Foto: Privatarchiv Nachlass Otto Koenig

Kontroversielle Positionen in der "Causa Hainburg" führen später zur Entfremdung in einer Beziehung, welche von vielen gemeinsamen Grundannahmen getragen war.
Im April 1989, kurz nach dem Ableben von Konrad Lorenz, erhält Otto Koenig folgende Mitteilung vom bekannten Lorenz-Schüler Irenäus Eibl-Eibesfeldt:

".....Ich war einen Monat vor Konrads Tod mit meiner Frau in Altenberg. Er sprach damals davon, daß er nun bald sterben würde, aber nunmehr bereit sei und den Tod nicht mehr fürchte. Und er sprach dann davon, daß er sich nur noch eines wünschte: mit Ihnen Frieden zu schließen.......Wenn ich Ihnen heute schreibe, so tue ich das nicht mit der Absicht, Sie irgendwie zu belasten, sondern damit Sie wissen, wie sehr er Sie im Grunde schätzte und auch gern mochte....."

"Ich bin sehr froh, der Schüler und Freund von Konrad Lorenz gewesen zu sein. Er braucht die Zukunft nicht mehr mitzuerleben, aber heute denke ich, er würde meine Ansicht teilen, daß wir Menschen zur Rettung der großen Ökosphäre es lernen müssen, in überregionalen Dimensionen zu denken. Alle anderen Handlungen erscheinen nämlich in der heutigen Situation wie "schmerzstillende Tabletten gegen Krebs".
(Otto Koenig, in: "Beim Menschen beginnen". Otto Koenig im Gespräch mit Kurt Mündl, 1991, p.185)

Handschriftliches Manuskript von Otto Koenig mit Bemerkungen
über Konrad Lorenz, vermutlich 1991
Foto: Privatarchiv Nachlass Otto Koenig

 

Irenäus Eibl-Eibesfeldt am Wilhelminenberg

Viele weltbekannte Wissenschaftler wie der spätere Lorenz-Schüler Irenäus Eibl-Eibesfeldt, Wolfgang Schleidt oder Eberhard Trumler entstammen dem Kreis der ersten Mitarbeiter der Biologischen Station Wilhelminenberg.

Prof. Irenäus Eibl-Eibesfeldt schreibt über seinen Einstieg am Wilhelminenberg:
"Wir hatten zuvor eine Arbeitsgemeinschaft für Verhaltensforschung von Otto Koenig besucht. Koenig suchte unternehmungslustige Studenten, und an Betätigungswillen und Neugier mangelte uns nicht. So kam es zu unserem ersten Besuch auf dem Wilhelminenberg. Noch am gleichen Tag wurden wir "Mitarbeiter". Otto Koenig wies uns in der dem Teich nächstgelegenen Baracke zwei Räume zu. Sie waren leer, aber nicht ganz unbelebt. Unter den Zierleisten, die unter der Decke quadratische weiße Kartons zur Isolierung festhielten, warteten ausgehungerte Wanzen.....Es begann eine Zeit des Organisierens. ich will nicht verraten, woher wir unsere Schreibtische bekamen und die Sessel, und wo wir all die Bretter sammelten, aus denen wir Bettnischen, Kästen, Stellagen bauten.....
Ich begann gleich mit der Beobachtung der Erdkröten. Ich wollte die das Paarungsgeschehen und den Laichakt auslösenden Reize erforschen und der Frage nachgehen, wie die Kröten überhaupt zum Teich fanden......Otto Koenig war mir in dieser Zeit ein wichtiger Lehrer. Er drängte darauf, zunächst zu beobachten und das Beobachtete genau zu protokollieren. Erst durch das Bemühen, einen Bewegungsablauf genau zu beschreiben, würde man das genaue Hinschauen lernen. Und in der Tat, wenn ich am Abend einen Vorgang aus der Erinnerung beschreiben wollte, kam ich schnell darauf, daß ich das erst vor einigen Stunden Gesehene gar nicht so gut wiedergeben konnte. Ich lernte sehen und beschreiben."
(I.Eibl-Eibesfeldt, in: Rendezvous mit Tier und Mensch, 1997, pp.22)